In New Yorks Subway blühen keine Kirschbäume

Kirschbäume in Blüte Ende April 2020 – ohne menschliche Betrachter. (Foto: Jake Dobkin, Gothamist)

Der pflanzlichen Natur ist das Coronavirus so ziemlich gleichgültig. Steigen die Temperaturen, was der mörderischen Mikrobe hoffentlich ihr Treiben erschwert, beginnt das Grün zu spriessen. Die wenigen Wochen des Wandels vom Winter zum Sommer hätten dieses Jahr auch wir New Yorker gern ausgekostet.

Das bunteste Frühlingsspektakel findet indes ohne Zuschauer statt. Im New York Botanical Garden, einem Juwel im oft schlechtgeredeten Stadtteil Bronx, breiteten sich im März Teppiche von Osterglocken ohne Publikum aus. Kurz danach entfalteten Hunderte von Magnolienbäumen ihre samtenen Blütenblätter, ohne von grossen Augen angestaunt zu werden.

Besonders bitter schmeckt die virusbedingte Schliessung des Brooklyn Botanic Garden, dessen Name sich aus unerfindlichen Gründen ohne Endsilbe «-al» schreibt. Die grösste Attraktion sind dort die entlang einer doppelten Esplanade angepflanzten Kirschbäume. Wenn die Kronen im April ihre rosa-weisse Pracht entfalten, huldigen in ihrem Halbschatten Zigtausende von Heimwehjapanern und Nippon-Fans der Kirschblütenmagie.


Am letzten Aprilwochenende gehörten die Kirschblüten ganz den Insekten und den Vögeln


Auf dem Höhepunkt des Cherry Blossom Festivals Sakura Matsuri kleiden sich junge Anime-Fans in verrückteste Cosplay-Kostüme, so als wollten sie den Blüten die Show stehlen. Dieses Jahr hatten sie, da weggesperrt, keine Chance: Am letzten Aprilwochenende gehörten die Kirschblüten ganz den Insekten und den Vögeln, obwohl die gefiederten Nascher eigentlich auf die Früchte warten.

In krassem Kontrast zur stillen Schönheit des Kirschbaumhains steht der lärmige Schmutz der Subway. Seit Corona die Stadt heimsucht, ist die Passagierzahl der U-Bahn von täglich fünf Millionen um über 90 Prozent zusammengebrochen. Immer noch sind mindestens 10’000 unverzichtbare Arbeitskräfte der Spitäler, Notfalldienste, Polizei und Feuerwehr darauf angewiesen, von ihren entfernten Wohnstätten ins Herz der Stadt pendeln zu können. Ihnen bleibt keine andere Wahl, obwohl eine Studie des Massachusetts Institute of Technology bis in alle Einzelheiten nachwies, dass die Subway als wesentlicher, wenn nicht gar wichtigster Verbreitungskanal für Covid-19 in New York gelten muss.

Im März hiess es, die Subway-Waggons würden alle 72 Stunden desinfiziert. Kondukteure können nicht bestätigen, dass dies auch wirklich geschieht. Stattdessen stossen sie, in den Worten eines Zugführers, auf «Abfall, Kot, Urin – eine sehr gefährliche Umgebung». In den weitgehend leeren Zügen haben sich nämlich Obdachlose eingenistet. Sie legen sich auf den Sitzbänken flach, gehüllt in verkrustete Decken, neben sich Einkaufstaschen oder gar Einkaufswagen mit vor Schmutz starrenden Siebensachen.


Immer mehr Obdachlose schlafen in der New Yorker Subway. (Foto: Runs with Scissors, Flickr)

Mit ihren Ausdünstungen schrecken die «Homeless» auch noch die letzten Wagemutigen ab, sofern sie alternative Transportmittel finden. Daher bleiben die Stadtstreicher unter sich, und niemand kümmert sich um sie. Letztes Wochenende wurden in Subway-Waggons zwei tote Obdachlose entdeckt.

Vielleicht fand Gouverneur Andrew Cuomo kein anderes Rezept gegen die unerwünschte Invasion. Jedenfalls beschloss er, die Subway ab dieser Woche jede Nacht zwischen ein und fünf Uhr stillzulegen. Nur so, machte er geltend, liessen sich die Waggons wirklich reinigen. Mein Verdacht: Was wirklich entfernt werden soll, hat zwei Beine.

Nur New Yorker können nachfühlen, um was für einen Einschnitt es sich bei der nächtlichen Betriebspause handelt. Wer in Manhattan lebt, zählte immer darauf, mit der Subway auch um zwei Uhr morgens von der Party in Harlem nach Downtown sausen zu können, in spannender Fahrgemeinschaft mit Halbweltfiguren, Nachtschwärmern und schlaftrunkenen Frühschicht-Arbeitern.

Begibt sich New York auf eine abschüssige Bahn? Kenner der Stadt warnen, dass ein reduzierter U-Bahnbetrieb, falls er nicht rasch rückgängig gemacht wird, die Attraktivität von Amerikas grösster Stadt und insbesondere von Manhattan schwer schädigen werde.

Die Indizien stimmen nicht zuversichtlich. Es muss sich erst zeigen, ob New York die Kurve kriegt und post-Corona seine frühere Blüte wiederherstellen kann. Dass die Kirschbäume im Brooklyn Botanic Garden jedes Jahr aufs Neue blühen werden, ist ein schöner, aber schwacher Trost.


2019 übertrafen sich Anime-Fans unter den Kirschblüten des Brooklyn Botanic Garden mit crazy Cosplay-Kostümen. (Fotos: Scott Lynch, Gothamist)

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