Unheimlich still ist es im Auge des Hurrikans

Berühmt und menschenleer: 42. Strasse in Manhattan. (Foto: Brecht Bug)

Katastrophen verleiten zu irreführenden Bildern. New York sei das Epizentrum der Coronavirus-Pandemie in Amerika, steht überall zu lesen. Das stimmt nur von der Tragweite her.

Dem Big Apple geht es gar nicht gut. Gegen die Hälfte aller an Covid-19- Erkrankten in den USA müssen in New York und dem dazugehörenden Gliedstaat behandelt werden, und ein Drittel der Corona-Toten sind hier zu beklagen. New York State sei fünfzehnmal schlimmer dran als Kalifornien, sagte Gouverneur Andrew Cuomo am Mittwoch.

Anders als ein Erdbeben ist die Epidemie aber nicht nach einem kurzen Rütteln vorüber. Treffender als die seismologische Metapher ist eine meteorologische: Myriaden von Coronaviren verbreiteten sich von Asien und Europa in die Neue Welt und gingen in der Ostküstenmetropole an Land wie ein Jahrhundert-Wirbelsturm, sich ständig ausweitend, grausam drehend, unaufhaltsam.

Und wie im Auge eines Hurrikans ist es in Manhattan ruhig – unheimlich ruhig. Still sind die leeren Strassen, durch die nur noch wenige Autos fahren. Vereinzelt oder in Paaren ziehen Menschen über die Trottoirs. Immer mehr tragen eine Maske. Vor Supermärkten – neben Apotheken und Liquor Stores die einzigen noch offenen Läden – stehen New Yorker mit zwei Meter Abstand Schlange, um gestaffelt eingelassen zu werden. Die bedrohliche Stille unterbricht immer häufiger das Jaulen von Ambulanzen.


Weshalb ist New York Amerikas Wuhan geworden? Die grösste Stadt ist auch das Eingangstor zu den USA, Viren wissen das.


Still ist es auch in unserem Haus. Das Hundegekläff von oben ist verstummt, und im Lift trifft man auf niemanden mehr. Die meisten Mitbewohner werden geflohen sein, wie es Städter bei Epidemien immer schon taten. Sie fuhren zu ihren Familien, zu Freunden oder einfach aufs Land. In den Hamptons schossen die Mietpreise saisonwidrig hoch. Dabei exportierten die Stadtflüchtlinge jede Menge Viren. New Yorker sollen sich an ihren Zufluchtsorten zwei Wochen lang verkriechen, lautet eine neue Order. Die Seuchensaat ist aber gesät, weshalb im grösseren Einzugsbereich bald New Yorker Verhältnisse einziehen werden, mit überlasteten Spitälern und immer schärferen Verhaltensvorschriften.

Weshalb ist New York Amerikas Wuhan geworden? Die grösste Stadt ist auch das Eingangstor zu den USA, Viren wissen das. Und man lebt hier enger aufeinander als anderswo. «Die Enge macht uns zu etwas Besonderem», schwelgte Cuomo. Im Hintergrund wähnte man Frank Sinatra «New York, New York» singen zu hören.

Recht hat er aber schon, der Gouverneur. New Yorker sind zäh, und die Stadt, keine Frage, wird die Epidemie wie viele frühere Stürme überleben. Dann wird sie wieder werden wie zuvor, faszinierend, lärmig, vielfältig und ansteckend. Nicht für Viren – für Menschen mit Lust aufs Leben.

Dies ist die letzte «Melting-Pot» -Kolumne in der Basler Zeitung. Falls Sie auch künftig gern über das Leben in New York lesen würden, können Sie mir ein Mail auf martinsuternyc@gmail.com schicken oder ein Tweet mit @martinnyc schreiben. Je grösser das Interesse, desto eher kommt ein Big-Apple-Blog zustande.


Erschienen am 28. März 2020 in der Basler Zeitung.

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