Die Mägen sind voll, doch Kunst verliert ihre Nahrung

Der Pop-Künstler Andy Warhol auf seinem geliebten Flohmarkt. (Foto: Sharon Baluta)

Die Frage ist natürlich hypothetisch, denn Andy Warhol ist seit bald 33 Jahren tot. Aber könnte der einflussreiche Pionier der Pop-Art im heutigen Manhattan leben und arbeiten? Das Geld dazu hätte Warhol gehabt, zumindest in der späteren Phase seiner Karriere. Auch sein Gespür für Sozialtrends und das Geschick, menschliche Eitelkeit zu vermarkten, könnte er ausleben. Aber Inspiration für seine Kunst? Dafür müsste er heute schwer auf die Suche gehen.

Am letzten Dezemberwochenende segnete nämlich der berühmte Flohmarkt in Chelsea nach 43 Jahren das Zeitliche. Auf einem Parkplatz an der West 25. Strasse stellten Händler zum letzten Mal ihre Stände auf und verkauften Antiquitäten, Krimskrams und immer wieder Überraschendes. Warhol war in den 1980ern der berühmteste Kunde des «Annex Antiques Fair and Flea Market». Schon vor Mittag fuhr er jeweils in einem alten Dodge Cabrio vor und ging auf Streifzüge durch die auf mehrere Parkplätze verteilten Flohmärkte mit Hunderten Händlern. Zuweilen mussten Autogrammjäger, die ihm nachstellten, verscheucht werden.

Besessen sammelte Warhol alles Mögliche, von Kunst über Möbel, Uhren, Art-déco-Gegenstände bis zu banalsten Alltagswaren. Am Ende füllten Tausende von Objekten mit Ausnahme von zwei Wohnräumen alle 30 Zimmer seines Stadthauses in der Upper East Side. Sammeln war für Warhol künstlerische Praxis.

Man musste nicht Künstler sein, um sich vom Chelsea-Flohmarkt überraschen zu lassen. Über meinem Kopf hängt eine dort erstandene Industrielampe, zur Hälfte grellrot besprüht. Im Wohnzimmer steht eine antike Holzleiter, die sich zum Stuhl umklappen lässt. Das Bücherregal belastet eine Kompaktausgabe des zwanzigbändigen Oxford English Dictionary. Der Händler verlangte fünf Dollar, nur die Lupe fehlte.


Schon vor Mittag fuhr Warhol jeweils in einem alten Dodge Cabrio vor und ging auf Streifzüge durch die Flohmärkte.


Unter solche Beutegänge zieht die Schliessung des Chelsea-Flohmarkts einen doppelten Schlussstrich, nachdem am Broadway in SoHo eine kleinere Version schon vor Jahren verschwand. In Manhattan ist nur noch ein Flohmarkt übrig geblieben, oben in der Upper West Side, ausserhalb unseres Jagdreviers zu Fuss.

Wie so oft ist Gentrifizierung am Werk. Parkplätze mit Wochenendmärkten haben keine Chance gegen Wohntürme für Millionäre. Wenn es den kreativen Kleinhandel überhaupt noch gibt, wird er streng kuratiert.

Ausserhalb Manhattans offerieren zwei Flohmärkte in Brooklyn Kulinarik und Kunsthandwerk. Austern zu schlürfen, exotische Häppchen aufzuspiessen und hausgebrautes Bier zu kippen, kommt der Kundschaft heute reizvoller vor als in Antikem zu stöbern und von Trouvaillen Staub wegzublasen.

New Yorker sind keine Kostverächter, auch ich nicht. Für Genuss und zum Zeitvertreib werde ich ab April wieder an die 25. Strasse pilgern. Wie eben bekannt wurde, geht dort nämlich erneut ein Flohmarkt auf – allerdings unter der Regie der Betreiber aus Brooklyn. Sie exportieren ihr profitables Konzept nach Manhattan, was in erster Linie den Magen freut.


Erschienen am 1. Februar 2020 in der Basler Zeitung.

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