2020 steht New York vor – ja, vor was denn?

Neujahr 2020 über dem Central Park (Video: Martin Suter)

Der Countdown zum Jahresende läuft. Im nervösen New York scheinen die Uhren schneller zu ticken als an ruhigeren Orten. Auch hier dreht sich jedoch vieles im Kreis. Dieser Gedanke schoss mir angesichts lokaler Nachrichten der letzten Tage in den Kopf. Kaum hatte ich in meiner letzten BaZ-Kolumne die unsäglich vielen Schutzgerüste über New Yorks Trottoirs beklagt, als genau das passierte, was die «Sidewalk Sheds» verhindern sollten: Es fiel ein Fassadenteil auf eine Passantin. Die 60-jährige Erica Tishman, ausgerechnet eine Architektin, war auf der 7. Avenue unterwegs, als eine Terracotta-Fliese von einem 17 Stockwerke hohen Gebäude wegbrach und sie erschlug.

Die traurige Nachricht weckte Erinnerungen an frühere Zeiten, als New York in Geldnöten steckte und zu verlottern drohte. Es war ein kleiner Trost, dass an diesem Fall die Stadt keine primäre Schuld trug: Die Fassade war inspiziert und eine Sanierung befohlen worden. Verantwortlich war der säumige Hauseigentümer; er schob die Reparatur monatelang hinaus.

Auf düstere Gedanken brachte mich auch der Mordfall von Tessa Majors. Die 18-jährige Rocksängerin und College-Studentin an der Columbia University wurde am 11. Dezember um 19 Uhr in einem Park in Harlem erstochen. Drei Kids im Alter von 13 und 14 Jahren wollten sie berauben, und sie versuchte, sich zu wehren.


Bei kühler Betrachtung läuft nämlich vieles rund in New York. Statistisch ist die grösste US-Stadt sicherer denn je.


Eine junge Frau allein im Park, attackiert von jungen Männern auf der Pirsch – das erinnert bedrohlich an den berühmten Fall der «Central Park Joggerin». Die Vergewaltigung und beinahe tödliche Verletzung der 28- jährigen Trisha Meili erschütterte 1989 die Stadt. Sie mündete in einen schweren Justizirrtum, dem fünf junge Schwarze zum Opfer fielen und der erst 2001 aufgeklärt wurde. Kehrt New York zurück in eine dunkle Vergangenheit? Langjährige Bewohner der amerikanischen Megalopolis entwickeln feine Antennen für Veränderungen. Sie neigen dazu, schockierende Einzelereignisse zu Trends hochzustemmen.

Zum Jahreswechsel hoffe ich, dieser Versuchung zu widerstehen. Bei kühler Betrachtung läuft nämlich vieles rund in New York. Statistisch ist die grösste US-Stadt sicherer denn je. Die Mordrate, die 1990 den Höchststand von 2245 erreichte, ist 2018 auf 289 abgesunken, den tiefsten Wert seit den 1940er-Jahren.

Bezüglich Gewaltverbrechen ist New York, mit der Ausnahme von San Diego, friedlicher als alle anderen der zehn grössten US-Städte. Die Stadt blüht. Wolkenkratzer spriessen wie Pilze aus dem Boden. Google, Amazon und Facebook schaffen Zigtausende neuer Arbeitsplätze, teils in neuen Stadtvierteln, die rasend schnell hochgezogen wurden. Die Bevölkerung New Yorks ist bunt und jung, das hält am Leben. Frauen sind klar in der Mehrheit – auch das ist ganz angenehm.

Vielleicht wird New York einmal das Opfer des eigenen Erfolgs. Das könnte eintreten, wenn sich Normalsterbliche die Stadt nicht mehr leisten können. Aber ganz so weit ist es nicht. Noch fühle ich mich hier am richtigen Ort.

Ich möchte New York zuprosten, am besten auf dem Times Square, der Kreuzung der Welt: Happy New Year!


Erschienen am 28. Dezember 2019 in der Basler Zeitung.

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