Festtagsgeglitzer über dem Gerüsttunnel

«Sidewalk sheds» versperren den Blick hunderte Meilen lang. (Foto: Eli Friedman)

Weihnachten in New York City – da leuchten die Augen. Amerikas Kinder, ob nach Jahren oder im Geist, träumen alle davon, in den Adventstagen die «Christmas Capital of the World» zu besuchen.

Die Hauptstadt von allem ausser der Politik zu sein, gehörte immer schon zu den Ansprüchen der grössten US-Stadt. Im Fall der Festtage ist die Prahlerei aber berechtigt. Vor dem Rockefeller Center überstrahlt ein 23 Meter hoher Christbaum die Eisbahn, auf der winterlich Vermummte ihre Kurven ziehen. In den Schaufenstern der grossen Warenhäuser glitzern bewegte Puppenfiguren aus Märchen und Science-Fiction. Überhaupt vermischt sich das festliche Funkeln auf berückende Weise mit dem Neon der Schrifttafeln und den leuchtenden Fenstern der Bürotürme.

Die Augenweide geniesst aber nur, wer die Hochhäuser in den Blick fassen kann. Und das gelingt bei weitem nicht überall. New Yorks Trottoirs sind von skandalös vielen Gerüsten überdacht. Fast auf jedem Block stehen die hässlichen, aus Stahlrohr zusammengeschraubten Gestelle mit Sperrholzplatten oben und auf der Seite.

Die «Sidewalk Sheds» genannten Ungetüme versperren neben dem Blick auch den Gehbereich. Fussgängern werden Slalommanöver abgenötigt, wollen sie nicht mit dem Gegenverkehr kollidieren. Unter den Gerüsten sammelt sich Dreck. Davon angezogen und auf der Suche nach einem Regendach bauen Obdachlose in den temporären Tunnels ihre Kartonburgen.

Kaum vorstellbare Zahlen illustrieren die Stadtplage. New York verschandeln nicht weniger als 9326 Trottoirgerüste, fast die Hälfte davon in Manhattan. Sie summieren sich auf die groteske Länge von 535 Kilometern. Auf der interaktiven Karte, die von der Regierung wie zum Hohn ins Netz gestellt wurde, sieht die Stadt aus wie eine von Pocken entstellte Kranke.


Viele Eigentümer montieren die Monstrositäten nie ab, denn so können sie Geld sparen.


Es ginge ja noch, wenn über den «Sheds» gebaut würde. Doch das ist in den allerwenigsten Fällen so. Die meisten der Gerüste haben einzig den Zweck, Passanten vor dem zu schützen, was von oben kommen könnte. Sie verbreiteten sich als Vorsichtsmassnahme, nachdem 1980 die 17- jährige Studentin Grace Gold von einem Stück Gemäuer erschlagen wurde.

Das heisst nicht, dass es in New York ständig Steine hagelt. Aber ein örtliches Gesetz, verschärft 1989 unter Bürgermeister Rudy Giuliani, verlangt bei allen mehr als fünf Stockwerke hohen Gebäuden alle fünf Jahre Fassadeninspektionen. Während Handwerker an Backsteinen herumhämmern und Mörtel ersetzen, ist das Trottoir darunter zu beschirmen.

Nun kostet es aber viel mehr, «Sidewalk Sheds» zu errichten, als sie zu mieten. Ergebnis: Viele Eigentümer montieren die Monstrositäten nie ab, denn so können sie Geld sparen. Manche Gerüste stehen schon seit zehn Jahren; im Schnitt sind sie über 300 Tage alt. Revisionsbemühungen wurden bisher von Bürokraten und der Immobilienlobby abgeblockt.

«Merry Christmas» lässt sich in New York daher auch dieses Jahr mit «Gerüststangen ausweichen» übersetzen. Wenn sich gegen diese Plage etwas täte – das wäre ein Weihnachtsgeschenk.


Erschienen am 14. Dezember 2019 in der Basler Zeitung.

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