In New York leben heisst Abschied nehmen

Die City Bakery an der 18. Strasse, eine Oase der Gemütlichkeit, ist nicht mehr. (Foto: @citybakerydaily

«Du, ich bin gerade eine Woche in New York. Hast du Zeit, können wir uns sehen?» – «Natürlich, treffen wir uns doch für einen Kaffee.» – «Wo denn, hast du einen Vorschlag?»

Da ist sie schon wieder, die mühsame Frage nach dem besten Ort für eine ruhige Zusammenkunft am Nachmittag. Sie gehört dazu, wenn man in einer touristisch attraktiven Weltstadt wohnt. In New York ist sie gar nicht so leicht zu beantworten. Obwohl es allein in Manhattan über 10 000 Restaurants gibt, geht der Spruch von der Qual der Wahl am Problem vorbei. Die meisten Orte kommen nämlich nicht infrage. Nach Hause lädt man so schnell niemanden ein, dafür sind die Apartments zu klein und unaufgeräumt. Hotellobbys sind langweilig, Bars lärmig, Starbucks- Filialen seelenlos.

Meldete sich ein Kollege oder gar ein Vorgesetzter an, schlug ich gern die City Bakery an der 18. Strasse vor. Dort war der Schallpegel so niedrig wie die Decke hoch. Entlang der Wände auf Lederbänken sitzend, konnte man mit seinem Gegenüber in Ruhe plaudern, während auf dem runden Tischchen die berühmte «hot chocolate» dampfte und das darin schwimmende Marshmallow auflöste.

Doch das ist Vergangenheit. Vor zwei Wochen, kurz vor ihrem 29. Jahrestag, machte die City Bakery zu. Wieder einmal ging ein Stück vertrautes New York verloren. Vorbei die Riesen-Brownies und die Brezel- Croissants. «Was für ein Verlust», jammerte der Gründer auf Instagram. «Ein Verlust für uns alle. Es wird uns ewig fehlen.»


Zum Boom, den Amerikas grösste Stadt gegenwärtig erlebt, gehören punktuell auch Pleiten.


Wer ein längeres Weilchen in dieser Stadt lebt, dem fehlt schon arg vieles. In der Parallelstrasse ist das Union Square Cafe verschwunden, eine Gourmetdestination, an deren Holzbar die Weissweingläser mehr als nur zur Hälfte gefüllt wurden. Weiter südlich können Bauarbeiter nicht mehr im Jones Diner billige Burger verdrücken. Ihm gegenüber gab unlängst auch das Restaurant NoHo Star seinen Geist auf. In dem langjährigen Quartierrestaurant hatte unsere Familie einst Silvester gefeiert.

Warum muss, wer in New York lebt, immer Abschied nehmen? Nicht nur Menschen, auch Lokale und Läden kommen und gehen in rasendem Rhythmus. Und zum Boom, den Amerikas grösste Stadt gegenwärtig erlebt, gehören punktuell auch Pleiten.

Am Niedergang der City Bakery ist typisch, dass bei ihr der Traum von Grösse an der Realität zerbrach. Das Konzept einer urbanen Bäckerei mit innovativer Speisekarte war bahnbrechend und machte die Marke attraktiv. Bald öffneten Filialen in New York und Ableger in anderen Städten von Detroit bis Tokio. Als Zusatzgeschäft lancierte die City Bakery sogar eine Ökobäckerei mit Velokurieren. Dabei wuchsen die Schulden, bis am Ende keine Bank mehr Geld geben wollte.

Alles Wachsen ist schwierig. Deshalb dominieren unter New Yorks Lokalen immer mehr die Eintagsfliegen oder die grossen Ketten mit tiefen Taschen. Frank Sinatra hatte zwar recht, als er einst sang: «If you can make it in New York, you can make it anywhere.» Aber nicht überall gleichzeitig.


Erschienen am 2. November 2019 in der Basler Zeitung.

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