Obdachlose bewirtschaften – und zusammenschlagen

New York kommt mit der Obdachlosigkeit nicht zurecht. (Foto: Alex Proimos)

Portemonnaies funktionieren in New York schlecht – sie sind zu langsam. Hier lernt man schnell, immer ein paar Dollarscheine und Quarters griffbereit in der Hosentasche zu haben. Denn wo der Weg auch hinführt, in fast jeder grösseren Strasse strecken einem Obdachlose ihre Bettelbecher entgegen. Verhärmte Männer in verlumpten Kleidern gibt es schon lange. Roter Teint und wässrige Augen verraten Alkoholiker. Bleiche Gesichter und Zeitlupenbewegungen deuten auf andere Drogen.

Viele sind Kriegsveteranen, viele behindert, und die meisten murmeln «Food», weil Hunger nachvollziehbar ist und am ehesten Mitleid erregt. Neuerdings werden die Obdachlosen jünger. Sie lungern nicht mehr an der Strassenecke, sondern lassen sich auf dem Trottoir nieder. Kürzlich beim Union Square platzierte sich eine kaum Zwanzigjährige mit ihrem Hund nicht etwa gegen die Häuserwand, sondern mit dem Rücken zum Randstein, den Blick auf Passanten gerichtet. «War in einer gewaltsamen Beziehung», stand auf ihrem Kartonschild zu lesen. «Habe Wohnung verloren. Brauche Geld.»


Die exorbitanten Wohnkosten sind oft die wichtigste unter den vielen Ursachen für ihr Scheitern.


Die junge Frau steht für viele, die in die grosse Stadt ziehen, um beruflich voranzukommen und einen Partner zu finden, die das aber aus irgendwelchen Gründen nicht schaffen. Die exorbitanten Wohnkosten sind oft die wichtigste unter den vielen Ursachen für ihr Scheitern. Die Zahl der Obdachlosen in New York nimmt stetig zu, zuletzt wurde sie auf 79 000 geschätzt. Gleichwohl ist das Problem hier weniger augenfällig als in Los Angeles oder San Francisco. Dort müssen Fussgänger mancherorts neben den Zelten und Schlafsäcken der «Homeless» einen Spiessrutenlauf um menschliche Exkremente machen. In New York gibt es seit einem Gerichtsurteil von 1979 ein Recht auf Obdach. Die Stadt muss allen, die anklopfen, innert 24 Stunden zumindest zeitweilig Unterkunft bieten. «Bloss» 4000 Stadtstreicher übernachten im Freien.

Angst vor bettelnden Obdachlosen verspüre ich selten. Wenn sich ein «Panhandler» beim Rotlicht dem Auto nähert, geht die Scheibe hoch. In der Subway gebe ich nie etwas. Betteln ist dort illegal, weil die Fluchtwege fehlen. Auf dem Perron passe ich doppelt auf. Es kommt vor, dass geistig Kranke oder Verwirrte wartende Passagiere vor herandonnernde Züge stossen.

Am meisten Grund für Angst haben die Obdachlosen selbst. Auf der früheren Säufermeile der Bowery, unten in Chinatown, rastete Anfang Oktober ein 24- jähriger Mann aus, der selbst auch keine Bleibe hatte. Er ergriff ein Stahlrohr und schlug vier andere Strassenschläfer tot, einen fünften verletzte er schwer. Insgesamt erlitten in den vergangenen zwei Wochen mindestens sechs Obdachlose einen gewaltsamen Tod.

Hinter seinen funkelnden Fassaden ist New York brutal. Und es stimmt etwas nicht. Unter dem Budgetposten «Homeless» gibt die Stadt jedes Jahr über drei Milliarden Dollar aus – ja, wozu denn? Nicht um die Obdachlosigkeit zu beenden, sondern um sie zu bewirtschaften. Diese Wirtschaft blüht.


Erschienen am 19. Oktober 2019 in der Basler Zeitung.

681 Kommentare