Seuchengefahr für San Gimignano am Hudson

Wie Bleistifte ragen die superdünnen, superhohe Türme in die Höhe. (Foto: Brecht Bug)

New Yorks Skyline, die womöglich am meisten fotografierte der Welt, macht wieder einmal einen markanten Wandel durch. Wer mitten in Manhattan steckt, dem springt das nicht ins Auge. Als langjähriger Bewohner will man schliesslich nicht mit einem Touristen verwechselt werden. Anstatt hoch auf Dächer von Wolkenkratzern richten Ansässige ihren Blick auf Menschen, Schaufenster, Verkehrsampeln und das Smartphone in der Hand.

Die städtebauliche Entwicklung kommt jeweils in Schüben. In den 1990ern war weit und breit kein Kran zu sehen. Nach 9/11 galt es, den zerstörten Teil des Finanzdistrikts wiederherzustellen. Ab 2010 sprossen über einem Rangierbahnhof im Westen die Hochhäuser im brandneuen Viertel Hudson Yards. Neu im Trend liegen superdünne, überhohe Wolkenkratzer. In der «Milliardärszeile» der 57. Strasse stehen bereits vier spindeldürre Türme, deren oberste Stockwerke höher liegen als der 417 Meter hohe Gebäudekörper des vergleichsweise bulligen One World Trade Center auf Ground Zero.


Könnte auch in New York der architektonische Hochmut vor dem Fall kommen? Anzeichen dafür gibt es schon.


Von da oben gesehen wirkt New York niedlich, die Welt liegt einem zu Füssen. Käufer lassen sich diese Aussicht etwas kosten. Den Rekordpreis zahlte dieses Quartal der britische Musiker Sting für ein Penthouse-Apartment: 65,8 Millionen Dollar. Lässt Sting in luftiger Höhe den Blick schweifen, muss er sich vorkommen wie einst die reichen Bürger in San Gimignano, wenn sie über die Toskana schauten. New Yorks Immobilienfürsten von heute ticken gleich wie dort im Mittelalter die führenden Familien, die sich mit Dutzenden bis 70 Meter hohen Wohntürmen gegenseitig zu übertreffen suchen.

Dem Turmbauwahn in San Gimignano bescherte 1348 die Pest ein jähes Ende. Ohne lebende Menschen machen Rekordtürme keinen Sinn. Könnte auch in New York der architektonische Hochmut vor dem Fall kommen? Anzeichen dafür gibt es schon. Die Preise purzeln, und nicht weniger als jede vierte Eigentumswohnung in den neuen Wolkenkratzern steht leer. Russische Oligarchen dürfen nicht mehr kaufen, wenn sie auf der Sanktionsliste stehen. Krösusse aus China wollen immer seltener zuschlagen. Sie alle und die Amerikaner schreckt seit Juli die neue «Mansion Tax» ab, die den Immobilienerwerb ab zwei Millionen Dollar mit einer Sondersteuer von bis 3,9 Prozent belegt.

Soll mich das alles kümmern? Normalen New Yorkern sind die Sorgen der Superreichen ziemlich egal. Sie haben genug Mühe damit, jeden Monat ihre eigenen Rechnungen zu zahlen. Die internationalen «Condo»-Käufer leben sowieso in einer anderen Welt – ausserhalb der Stadt. Für sie ist das Apartment in Manhattan ein Prestige-Investment. Schlittert ihre Geldanlage ins Minus, dann ist mir das, ganz ehrlich gesagt, noch so recht.

Erschienen am 5. Oktober 2019 in der Basler Zeitung.

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