Rauchsäulen einer moralischen Ungeheuerlichkeit

Erschütterte New Yorker in der Vesey Street nach dem Zusammensturz des ersten Turms des World Trade Center am 11. September 2001. (Foto: Martin Suter)

Das Fahrrad ist noch dasselbe. Am Mittwoch schwang ich mich auf mein verlässliches blaues Cannondale und lenkte es in Manhattan nach Süden, wie schon als Reporter vor 18 Jahren. Velofahrer mögen New Yorks September, denn die Luft ist lau und die Sonne lacht.

So war es auch am 11. September 2001. Als ich damals am Nordrand des Finanzquartiers ankam, durften Motorfahrzeuge bereits nicht mehr durchfahren. Fussgänger starrten gebannt auf die zwei Rauchsäulen, die von den brennenden Zwillingstürmen des World Trade Center in den blauen Himmel stiegen.

Ausgerechnet an jenem Tag erlitt ich eine Reifenpanne und musste den letzten Teil des Wegs zu Fuss gehen. Dass ich verspätet ankam, bewahrte mich womöglich vor grösserem Unheil, denn kaum war ich vom Broadway in die Vesey Street eingebogen, stürzte zwei Häuserblocks entfernt der Südturm in sich zusammen. Ich entkam der Staublawine hinter der Glastür eines Bürogebäudes.

Zuhause vor dem Fernsehschirm fürchtete meine Frau um mein Überleben. Eine halbe Stunde später hatte der Terrorangriff die zwei höchsten Wolkenkratzer der Stadt in qualmende Schuttberge verwandelt, schwelende Massengräber für Abertausende Unschuldige.


Die hautnahe Erfahrung machte 9/11 für mich zu einem Wendepunkt. Ich sehe die Welt seitdem anders, bin unduldsamer geworden.


Es verbreitete sich eine lähmende Fassungslosigkeit; sie lag so schwer über allem wie die dicke Schicht von giftigem Staub auf den Strassen. Nie werde ich diese apokalyptische Szenerie vergessen, nie den beissenden Gestank in der Luft, nie das Entsetzen in allen Gesichtern. Die hautnahe

Erfahrung machte 9/11 für mich zu einem Wendepunkt. Ich sehe die Welt seitdem anders, bin unduldsamer geworden. Um so mehr beeindruckt mich, was heute beim Einbiegen in die Vesey Street vor mir liegt.

Links markieren Santiago Calatravas gigantische Skelettflügel einen Verkehrsknotenpunkt mit einer von edlen Läden gesäumten unterirdischen Marmorhalle. Rechts ragt One WTC in den Himmel, mehr trutzig als elegant, aber mit einem Gebäudekörper so hoch wie die zerstörten Doppeltürme. Die Spitze eingerechnet, steht hier das höchste Bauwerk des Landes.

Die übrigen neuen Türme sind wenig originell, doch sie signalisieren die Wiedergeburt des schwer verletzten Stadtteils. Zur Vitalität tragen jährlich über sechs Millionen Touristen bei, die auf Ground Zero das Memorial mit dem 9/11-Museum besuchen. Sie verweilen im Schatten der Bäume im Park bei den zwei tiefen Brunnen, deren Umrisse den quadratischen «Twin Towers» folgen. Hinter dem Rauschen der Wasserfälle ist der Verkehr fast nicht zu hören – das lädt zum Nachdenken.

Besinnlichkeit nämlich braucht es am kommenden Mittwoch, dem 18. Jahrestag dieser moralischen Ungeheuerlichkeit. Und nichts ist weniger hilfreich als die abstrusen Verschwörungstheorien, bei 9/11 habe es sich um einen Insider-Job gehandelt. Das ist frivol. So zu denken heisst, das radikal Böse zu verschleiern, dem hier in New York 2996 Menschen zum Opfer fielen. Wer es selbst miterlebte, dem ist das unerträglich.


Erschienen am 7. September 2019 in der Basler Zeitung.

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